Jörg Bohlen - The personal webpage

Turcinoemacheilus kosswigi – eine ungewöhnliche Schmerle aus dem Euphrat-Tigris-System

von Martin Breil & Jörg Bohlen

Die Schmerlen der Familie Balitoridae sind in der Türkei durch eine Reihe von Arten vertreten, die meistens der einheimischen Bachschmerle verwandtschaftlich nahestehen und auch ähnlich sehen. Durch Zufall stiess einer von uns beim Keschern in der Osttürkei auf eine kleine Schmerle, die sowohl im Aussehen als auch dem Verhalten schon ein wenig mehr von der Bachschmerle abweicht – Turcinoemacheilus kosswigi.

Im Jahr 1964 beschrieben Bănărescu & Nalbant eine kleine Schmerle aus der Familie Balitoridae anhand von 7 Exemplaren aus der Region Hakkari im Tigrissystem in der Osttürkei. Aufgrund einiger morphologischer Besonderheiten, vor allem der ungewöhnlichen Stellung der Rückenflosse, die weiter schwanzwärts als die Bauchflossen beginnt, errichteten Bănărescu & Nalbant eine neue Gattung für die Art: Turcinoemacheilus. Bis heute ist Turcinoemacheilus monotypisch, d.h. enthält nur die eine Art T. kosswigi.

Die Art konnte bislang nur sehr selten gefunden werden. Bis 1998 kannte man T. kosswigi nur von insgesamt 3 Lokalitäten, die allesamt nah beieinander im Tigrissystem in der Osttürkei liegen (Nalbant & Bianco 1998). Damit galt die Art als Endemit des Tigrisgebietes mit nur kleinem Verbreitungsgebiet.

Im Jahre 1999 fand einer von uns (M. B.) T. kosswigi in der Osttürkei, allerdings nicht im System des Tigris, sondern in der Nähe der Ortschaft Mercan am Karasu, einem oberen Zufluss des Euphrats (Breil & Bohlen 2001). Die Art hat also ein bedeutend grösseres Verbreitungsgebiet als angenommen, kann aber immer noch als Endemit des zusammenhängenden Euphrat-Tigris-Systems gelten.

Am Fundort von T. kosswigi ist der Karasu ein schnellfliessender Bergfluss. Die Fische fanden sich in einer Innenkurve auf einer überströmten Kiesbank bei Strömungsgeschwindigkeiten von über 1 m/sec. Auf der Kiesbank gab es weder Vegetation noch grössere Steine, und beim Fang bekam man den Anschein, als ob die schlanken Tiere sich im Lückensystem des Kieses aufhielten, der eine Korngrösse von etwa 1-4 cm hatte.

Ein Verstecken der Fische im Lückensystem könnte zu der Erklärung beitragen, warum die Art so selten gesammelt wurde. Zum einen sind Sammelreisen in der Osttürkei ohnehin selten, zum anderen gibt es die geeigneten Kiesbänke nur an bestimmten Stellen des Flusses und ausserdem lässt sich ein kleiner Fisch im Lückensystem mit den gängigen Fangmethoden schlecht erfassen bzw. leicht übersehen.

Einige lebend nach Deutschland gebrachten Exemplare ermöglichten erste Beobachtungen an T. kosswigi im Aquarium. Ein spezielles Becken, dass einer schnell überflossenen Kiesbank nachempfunden war, stand leider nicht zur Verfügung, jedoch ein 1,2 m langes Becken mit Sandgrund und Bepflanzung, an dessen einem Ende ein starker Motorinnenfilter Wasser gegen die Frontscheibe und über einen Haufen flacher Steine und grober Kiesel spülte. Dieser turbulente Aquarienbereich mit dem Steinsubstrat diente ursprünglich als Laichplatz für strömungsliebende Arten wie z.B. Schneider, Alburnoides bipunctatus, stellte sich jedoch schnell als fast alleiniger Aufenthaltsort der frisch eingesetzten T. kosswigi heraus. Die Tiere hielten sich ausserhalb der Fütterungszeiten fast ausschliesslich im Zwischenraum zwischen der Filteraufhängung und der Glasscheibe auf. In letzterer Position liess sich beobachten, dass die Fische sich durch Aufstellen aller Flossen in dem etwa 10 mm breiten Zwischenraum verankerten. Dabei pressten die Flossen so stark an die angrenzenden Flächen oder in vorhandene Lücken, dass der Fisch in seiner Position fixiert war. Die Fische standen in diesem senkrechten Zwischenraum meist senkrecht mit dem Schwanz nach unten. Wenn sie ausserhalb eines Lückensystems schwammen, bewegten sie sich immer dicht an einem Substrat (Stein, Pflanzenblatt, Glasscheibe, etc.), ohne allerdings im allgemeinen das Substrat zu berühren. Nur im Bereich der stärksten Turbulenz bewegten sich die Tiere manchmal mit der Bauchseite an der Glasscheibe. Auffällig war, dass die Fische immer die Bauchseite zum Substrat wandten. Das führte dazu, dass sie bauchoben, bauchunten oder in fast jeder anderen Raumlage schwammen, je nach der Orientierung der Oberfläche der Struktur. Im Gegensatz zu den meisten anderen Schmerlen der Familie Balitoridae bevorzugte T. kosswigi übrigens nicht die bodennahen Bereiche des Aquariums, sondern war in jeder Beckenhöhe zu finden, solange sich dort Strukturen befanden, denen sie folgen konnten.

Das wohl interessanteste Verhalten zeigte T. kosswigi an der Frontscheibe des Aquariums an jener Stelle, an der die Strömung des Filters dicht unter der Wasseroberfläche auf die Scheibe traf. Hier konnte regelmässig beobachtet werden, wie die Tiere sich gegen die Strömung bis unter die Oberfläche bewegten, sich in einem Sprung an der Glasscheibe bis oberhalb der Wasserlinie hochbewegten und – dort hängen blieben! Die Fische hingen dort mit der Bauchseite und den abgespreitzten Brust- und Bauchflossen direkt der Scheibe aufliegend, und nur die Spitze der Schwanzflosse ragte noch ins Wasser. Dieses Hängen ausserhalb des Wassers konnte besonders in den ersten Wochen mehrfach täglich beobachtet werden. Die Dauer der ‚Ausflüge‘ reichte von wenigen Sekunden bis zu einigen Minuten. Um zu testen, ob die Fische sich an der Scheibe festsaugen oder nur durch Adhäsion dort blieben, setzten wir ein Individuum in eine längliche Plastikschale mit nur wenig Wasser und kippten die Schale langsam von einer Seite auf die andere, so dass das Wasser das Tier aus wechselnder Richtung überspülte. Immer drehte sich das Tier mit dem Kopf gegen die Ablaufrichtung des Wassers und meistens blieb das Tier nach Ablaufen des Wassers an der Stelle. Wir steigerten die Intensität der Schwenkbewegung, bis die Wasserbewegung das Tier hätte mitreissen müssen, doch das Tier schien nur noch fester an der Unterseite der Schale zu haften. Immer blieben die Brustflossen fest in ihrer Position, während der Schwanzstiel immer der Strömung des Wassers folgte. Daraus folgern wir, dass die Tiere sich mit den grossen, flach dem Substrat aufliegenden Flossen festsaugen können. Ob bei stärkerer Wasserbewegung auch die in ähnlicher Weise ausgebildeten Bauchflossen das Ansaugen unterstützten, konnte nicht zweifelsfrei geklärt werden.

Ein Ansaugen an harten Substraten ist von einigen strömungsbewohnenden Bodenfischen und Neunaugen bekannt. Besonders ausgeprägt und auffällig findet es sich bei den südostasiatischen Flossensaugern, z.B. der Gattungen Sewellia oder Gastromyzon, sowie bei den Plattschmerlen, z.B. Homaloptera. Sowohl Flossensauger als auch Plattschmerlen gehören innerhalb der Familie Balitoridae in die Unterfamilie Balitorinae. Dagegen zählt T. kosswigi ebenso wie z.B. die einheimische Bachschmerle Barbatula barbatula oder die artenreiche tropische Gattung Schistura zu den Bachschmerlen der Unterfamilie Nemacheilinae. Das weist darauf hin, dass sich das Ansaugen mit den Flossen zweimal innerhalb der Balitoridae entwickelt hat. An Gastromyzon wurde bei Aquarienhälterung ebenfalls das Anheften oberhalb der Wasserlinie beobachtet (Ott 1988) bis hin zum Klettern aus dem Aquarium bei ungünstigen Wasserbedingungen (Dickmann 1997). Ausserdem berichtete Dickmann (2001) über die negative Phototaxis von Jungen von Gastromyzon monticola, die noch nicht in der Lage waren, sich am Untergrund anzuheften, und sich stattdessen im Lückensystem des Kiessubstrates versteckten. Auch hier erscheinen Parallelen in den Anpassungen an stark strömende Lebensräume zu T. kosswigi.

Interessanterweise entfernten sich die gehaltenen Exemplare von T. kosswigi mit längerem Aufenthalt im Aquarium immer öfter und länger aus der stark strömenden Zone und bewegten sich entlang der Scheiben, des Bodens oder besonders der Pflanzen durch das ganze Becken. Auch das Anheften ausserhalb des Wassers wurde deutlich seltener.

T. kosswigi erwies sich als recht zutraulich, die Tiere schwammen durchaus am Tage durch das Aquarium und scheuten bei Pflegearbeiten auch nicht den Kontakt zu der Hand des Pflegers. Gegenüber anderen Fischen sind sie verträglich, untereinander fanden sie sich oft zu mehreren im selben Unterstand ein. Als Futter eigneten sich handelsübliche Futtertabletten, gefrorene rote Mückenlarven und geriebene Bachflohkrebse. Nach dem Laichen anderer Fische (Cyprinella lutrensis, Aphanius ssp.) in dem Kieshaufen durchsuchten die T. kosswigi auch das Lückensystem und frassen Fischeier. Die sommerlichen Spitzentemperaturen von kurzfristig 28º C wurden ohne Anzeichen von Unwohlsein erduldet, und auch bei Temperaturen von 18º C gab es keine Verringerung der Aktivität. Insgesamt ist T. kosswigi ein unproblematischer Aquarienfisch, dessen Besonderheiten aber sicher am besten in einem Strömungsbecken zur Geltung kommen.

Literatur

(Erschienen in Aquaristik Fachmagazin 167, 2002, S. 56-58 und abgedruckt mit freundlicher Genehmigung von H.-J. Herrmann, Tetra-Verlag, Berlin)